Afghanistan ist nicht sicher
AFGHANISTAN IST NICHT SICHER, DARUM BIN ICH NACH DEUTSCHLAND GEKOMMEN. WARUM SCHICKT DEUTSCHLAND MENSCHEN ZURÜCK NACH AFGHANISTAN?
Samander: Ich komme aus Afghanistan und habe von vielen Freunden gehört, dass es Probleme mit dem Asyl gibt. Viele haben Angst vor einer Abschiebung. Auch ich möchte nicht nach Afghanistan zurück. Es ist sehr gefährlich dort. Können Sie mir sagen, warum die Bundesregierung Menschen nach Afghanistan schickt, obwohl jeder weiß, dass es dort gefährlich ist?
Karl Kopp: Du hast völlig recht. Afghanistan ist nicht sicher. Es gibt auch keine vereinzelten sicheren Gebiete. Der Anschlag am 31. Mai fand in der am stärksten gesicherten Gegend Kabuls statt, der am stärksten gesicherten Stadt Afghanistans. Vielerorts kommt es zu heftigen Kämpfen, Bombenanschläge sind an der Tagesordnung, Teile des Landes kontrollieren die Taliban. Brutale Gewalt geht auch von den afghanischen Ablegern des IS und al Qaida aus und von den zahllosen Milizen der untereinander verfeindeten Warlords. Dazu gibt es immer mehr Gewalt von kriminellen Banden. Durch die bewaffneten Konflikte verlieren jedes Jahr Tausende Menschen ihr Leben, ihre Häuser, ihre Lebensgrundlage. Im Jahr 2016 gab es fast 3.500 Tote und mehr als 7.900 Verletzte unter der afghanischen Zivilbevölkerung. Hunderttausende Afghan*innen befinden sich bereits auf der Flucht. Und damit komme ich zur eigentlichen Antwort: Ich denke, die Abschiebepolitik von Innenminister de Maizière richtet sich vor allem an die, die noch kommen wollen. Die Botschaft lautet: Kommt nicht nach Deutschland, wir schicken euch wieder zurück. Abschiebungen nach Afghanistan sind für die Rückkehrer*innen lebensgefährlich. Menschen nach Afghanistan zu schicken ist unmenschlich. Und es ist zutiefst menschenverachtend, Menschen als Material zur Abschreckung zu benutzen, damit andere nicht kommen. Warum macht die Bundesregierung das? Deutschland hat im Jahr 2015 viele Flüchtlinge aufgenommen. Doch schnell machte die Regierung klar, dass sie versuchen wird, alle abzuschieben, die keinen Schutzanspruch haben. Die größte Gruppe sind die Syrer. Menschen nach Syrien abschieben – das traut sich zurzeit niemand. Die zweitgrößte Flüchtlingsgruppe sind die Afghanen. Seit Herbst 2015 spricht Bundesinnenminister de Maizière in der Öffentlichkeit den Afghan*innen ab, wirkliche Fluchtgründe zu haben, obwohl sich die Sicherheitslage im Land immer weiter verschlechtert. Er hatte es 2015 zu einem seiner Ziele erklärt, die Anerkennungsquote von Afghanen zu senken. Seitdem ist die Schutzquote – also Flüchtlingsschutz, subsidiärer Schutz und Abschiebeverbot zusammen – beim Bundesamt von 78% im Jahr 2015 auf 61 % 2016 und knapp 50 % 2017 gesunken. Zeitgleich fing auch im Herbst 2015 bereits die Einsortierung von Geflüchteten in Menschen mit »guter« oder »schlechter Bleibeperspektive« an, anstatt die Öffnung von Integrations- und Sprachkursen für alle von Anfang an zu gewährleisten. Afghanische Flüchtlinge wurden durch zahlreiche Maßnahmen praktisch zu Flüchtlingen zweiter Klasse gemacht.
Samander: Bis vor einem guten Jahr haben alle Afghanen in Hamburg eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Jetzt nicht mehr. Was ist der Grund?
Karl Kopp: Die sogenannte Senatoren-Regelung, nach der Afghan*innen nach 18 Monaten Aufenthalt eine Aufenthaltserlaubnis bekommen konnten, war eine gute Sache. Aber es gab sie nur in Hamburg. Als Innenminister de Maiziere ab Oktober 2015 immer lauter für Abschiebungen nach Afghanistan warb, war klar, dass diese humanitäre Regelung bald aufgehoben würde. Und so ist es ein paar Monate später im Frühjahr 2016 geschehen. Das war nicht gut. Aber rechtlich war dagegen nichts zu sagen.
Samander: Seit Dezember werden in jedem Monat Menschen nach Afghanistan zurück geflogen. Das war früher nicht so. Warum ist das so? Das geht doch gar nicht. Die Situation wird immer schlimmer dort.
Karl Kopp: Alle, sogar Herr de Maiziere, wissen, dass die Situation in Afghanistan immer schlimmer wird. Dennoch wurden seit Dezember in 5 Abschiebeflügen 106 Männer nach Afghanistan abgeschoben. Möglich wurden die schon seit Oktober 2015 angestrebten Abschiebungen, weil die afghanische Regierung der Rücknahme abgelehnter Asylbewerber zugestimmt hat. Dafür bekommt sie einige Milliarden Finanzhilfe von der EU und Deutschland. Seit Abschluss des Rückübernahmeabkommens der Bundesregierung mit Afghanistan im Herbst 2016 steigt die absolute Zahl der Ablehnungen: 3.186 im Oktober, 4.783 im November, 5.924 im Dezember, 6.641 im Januar 2017, 7.704 im Februar und 10.246 im März. Allein von Januar bis März 2017 wurden fast 25.000 Flüchtlinge aus Afghanistan vom Bundesamt abgelehnt, mehr als im gesamten Jahr 2016. In den ersten beiden Monaten des Jahres 2017 betrug die Schutzquote für Afghan*innen nur noch 47,9 Prozent.
Samander: Erst hieß es „Flüchtlinge willkommen“, es wird viel Geld bezahlt für Jugendwohnungen und Schulen. Und dann lernt man viel und gibt sich Mühe. Und dann wird man abgeschoben? Das verstehe ich nicht.
Karl Kopp: Das ist auch nicht zu verstehen. Aber du solltest nicht zu pessimistisch sein. Gerade gute Leistungen in der Schule helfen, hier einen gesicherten Aufenthalt zu bekommen, auch wenn das Asylverfahren schlecht ausgegangen ist. Außerdem ist es sehr erfreulich, dass es in der Frage der Abschiebungen nach Afghanistan einen starken gesellschaftlichen Widerstand gibt. Schulklassen kämpfen für ihre afghanischen Mitschüler, Arbeitgeber für ihre Lehrlinge, Fußballclubs für ihre Mitspieler. Es finden in vielen Städten und an den Flughäfen Demonstrationen gegen die Abschiebecharter nach Kabul statt. Kirchen gewähren von Abschiebung bedrohten Flüchtlingen Asyl. Alle relevanten Menschenrechtsorganisationen setzen sich für einen generellen Abschiebestopp nach Afghanistan ein. Die zweitgrößte Regierungspartei, die SPD, fordert jetzt auf einmal in ihrem Bundestagswahlprogramm: „Da die Sicherheitslage in Afghanistan kein sicheres Leben zulässt, werden wir bis auf Weiteres keine Abschiebungen nach Afghanistan durchführen.“ Das ist ein Zugeständnis, weil es doch einen vernehmbaren Aufschrei gab und gibt – gegen diese unmenschlichen Abschiebungen.
Samander: Auf meiner Flucht aus Afghanistan habe ich so schreckliche Sachen gesehen. Ich möchte so gerne meine Zukunft in Deutschland planen. Seit 40 Jahren gibt es in meiner Heimat Krieg. Es ist nicht besser geworden. Ich verstehe auch nicht, warum sich die Menschen dort töten und verletzen. Das ist sehr traurig. Ich habe auch den Eindruck, dass andere Länder Geld bezahlen, damit der Krieg in Afghanistan nicht aufhört. Afghanistan sollte für alle Volksgruppen eine Heimat sein. Alle sollen sich vertragen. Was kann ich machen, damit ich nicht abgeschoben werde? Ich weiß schon, dass es wichtig ist, dass ich mit vielen anderen Afghanen in Deutschland in Kontakt bleibe. Damit ich Hilfe bekomme und anderen helfen kann.
Karl Kopp: Wichtig ist es, sich gut auf das Asylverfahren, vor allem auf das Interview gut vorzubereiten. Wenn es beim ersten Mal negativ ausgeht, kann man beim Verwaltungsgericht klagen. Wenn das Verfahren dort auch schlecht ausgeht, ist es wichtig, gute schulische Leistungen vorweisen zu können. Einen Aufenthalt bekommt man auch dadurch, dass man Ausbildung macht. Wenn das alles nicht klappt, gibt es noch die Möglichkeit, einen Härtefallantrag zu stellen.
Samander: Aber was kann ich sonst noch machen?
Karl Kopp: Beschaff dir möglichst viele Informationen gegen die Angst. Die Abschiebungen sollen genau das bewirken: Die große afghanische Community in Angst und Schrecken versetzen. Deutschland wird keine Massenabschiebungen nach Afghanistan machen können. Der weitaus größte Teil der Flüchtlinge wird hier bleiben. Wichtig bei allem: Du solltest dir von Anfang an ein Netzwerk von Unterstützer*innen und Freund*innen aufbauen. Wenn du z.B. als unbegleiteter Jugendlicher gekommen bist, hast du schon Betreuer*innen, Vormund und Lehrer*innen, dann kann dich noch ein Pate unterstützen oder der Trainer im Sportverein oder die Mitarbeiter*innen im Haus der Jugend; diese Leute haben auch wieder andere Leute um sich. Oder du kannst dich bei „Jugendliche ohne Grenzen“ oder anderen Jugendorganisationen engagieren. Je besser du hier verankert bist, desto besser sind deine Perspektiven. Ich wünsche dir alles Gute für deine Zukunft in Deutschland!
Karl Kopp ist Europareferent von PRO ASYL
PRO ASYL setzt sich für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten ein: durch Einzelfallhilfe, Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen und durch Öffentlichkeitsarbeit. Karl Kopp ist zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit im europäischen Rahmen und für die europaweite Vernetzung mit anderen Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen