Warum Abschiebung?

ICH HABE ANGST. SO WIE GANZ VIELE AFGHANISCHE JUGENDLICHE. VIELE VON UNS STELLEN SICH IMMER WIEDER DIE FRAGE: WERDE ICH ABGESCHOBEN?

Seit Dezember 2016 breitet sich unter uns Schüler*innen aus Afghanistan diese Angst aus. Auch Schüler*innen aus anderen Ländern wurden davon angesteckt. In einem Brief antwortet Ronja von Wurmb-Seibel uns allen. Sie ist Journalistin, Autorin und Filmemacherin. Sie hat länger in Kabul gelebt und kennt die Situation des Landes sehr gut.

Hamburg, 28.06.17

Lieber Mojtaba,
ich habe beschlossen, dir in einem Brief zu antworten. Das ist wahrscheinlich nicht das, was du dir vorgestellt hast, als Du mich gefragt hast, ob Du mich interviewen kannst – aber so ist das manchmal im Leben: Es passieren Überraschungen, wenn man etwas Mutiges macht. Und Du hast etwas sehr Mutiges gemacht. Du hast über deine Gefühle geschrieben. Und dann noch nicht mal in deiner Muttersprache. Hut ab. (So sagt man auf Deutsch, wenn man jemandem sagen will, dass man Respekt vor ihm hat.)
Du hast geschrieben, dass du Angst hast. Angst davor, dass meine Regierung dich nach Afghanistan abschiebt. Ich verstehe dich gut. Nicht, weil ich Afghanistan nicht mag, im Gegenteil: Ich liebe dein Land. Ich habe 2013 und 2014 dort gelebt und Afghanistan ist für mich so etwas wie eine zweite Heimat geworden.
Nein, ich verstehe dich, weil bei mir ein Jugendlicher aus Kabul lebt, unser Pflegesohn, und ich die ersten eineinhalb Jahre Angst hatte, dass er abgeschoben wird. Ich weiß noch, wie ich sechs Monate lang jeden Morgen zum Briefkasten gegangen bin, weil unser Anwalt gesagt hatte, wenn die Antwort von der Anhörung kommt und negativ ist, müssen wir schnell reagieren. Ich weiß noch, wie ich nachts geträumt habe, dass Hasib abgeschoben wird und ich nichts dagegen tun kann. Ich weiß noch, wie lähmend meine Angst war. Und ich bin sicher, deine Angst ist noch viel größer als die, die ich damals hatte.
Ich muss dir die Zahlen nicht schreiben, die ich meinen deutschen Freunden manchmal sage, wenn sie mich fragen, ob es stimmt, dass Afghanistan sicher genug ist, um dort zu leben. Du weißt viel besser als ich, dass es in deiner Heimat in den letzten Jahren immer gefährlicher geworden ist. Dass mehr Menschen ihre Arbeit und ihre Wohnung verloren haben, dass mehr Menschen geflohen sind, dass mehr Menschen im Krieg verwundet oder getötet worden sind. Dass die Taliban immer stärker und die Regierung immer schwächer geworden ist. Und dann auch noch der IS! Du hast allen Grund, Angst zu haben. Wer etwas anderes sagt, hat keine Ahnung wovon er spricht. Oder er lügt, wie meine Regierung. Nur ist es mit der Angst eine komische Sache: Egal, ob man einen Grund hat oder nicht, sie macht das Leben nicht besser.
Am liebsten würde ich dir deine Angst jetzt also einfach klauen und sie irgendwo ganz tief in der Erde eingraben. Oder noch besser: In einen Luftballon mit Helium packen und dann – ab ins Weltall damit, auf Nimmerwiedersehen! Aber, das ist die schlechte Nachricht, ich kann es nicht; und auch sonst niemand auf der Welt. Deine Angst besiegen kannst nur Du selbst. Ungerechter Weise musst Du noch dazu selbst herausfinden wie. Jede Angst ist unterschiedlich. Und so muss jeder Mensch seine eigenen Tricks finden.
Das einzige, was ich machen kann, ist: dir Mut machen. Ich kenne dich und deine Geschichte nicht, aber ich bin ganz sicher: Du bist stärker als du denkst. Wahrscheinlich fühlst du dich momentan oft so, als könntest du nichts an deiner Situation ändern. Das stimmt aber nicht. Klar, du kannst nicht entscheiden, ob du abgeschoben wirst oder nicht. Aber, was du ändern kannst, und zwar jeden Tag aufs Neue, ist, was du aus deiner Zeit in Deutschland machst. Dabei musst du etwas tun, das eigentlich unmöglich ist: Du musst versuchen, hier anzukommen, bevor du weißt, ob du überhaupt bleiben kannst. Du musst Deutsch lernen, eine fremde Kultur verstehen, neue Freunde finden. Du musst Prüfungen bestehen, Bewerbungen schreiben, Jobs suchen – ohne zu wissen, ob du bleiben darfst. Das ist anstrengend. Ungerecht. Absolut beschissen. Aber es führt einfach kein Weg drumherum: Du musst jetzt alles, was du hast, auf eine Karte setzen. Du musst anfangen, zu glauben, dass du hier bleiben darfst. Auch wenn das die Gefahr mit sich bringt, dass du eines Tages wahnsinnig enttäuscht werden könntest. Ich bin sicher: je mehr du dir dein neues Leben in Deutschland eroberst, desto stärker fühlst du dich und desto weniger Platz bleibt am Ende überhaupt noch für deine Angst. Ich glaube, den ersten Schritt dazu hast Du sowieso schon gemacht – als Du den Mut aufgebracht hast, über deine Angst zu schreiben.
In der Zwischenzeit, das kann ich dir versprechen, gibt es viele Menschen in Deutschland, wirklich viele Menschen, die alles dafür tun, damit unsere Regierung aufhört, Menschen wie dich nach Afghanistan abzuschicken. Politiker, Anwälte, Journalisten, Forscher, Lehrer, Köche, Friseure, Polizisten, Verkäufer, Busfahrer, Sportvereine, Schüler, Mütter, Väter, Kinder, Rentner. Wahrscheinlich kennst Du fast niemanden von ihnen. Wahrscheinlich fühlst Du dich die meiste Zeit ziemlich alleine hier in Deutschland. Aber glaub mir: da draußen kämpfen ein Haufen Leute für dich. Und ich glaube fest daran, dass sich früher oder später etwas verändern wird. Dass Du früher oder später keine Angst mehr haben musst. Bis dahin, das ist leider so, musst Du irgendwie durchhalten. Irgendwie deine Angst akzeptieren. Weitermachen.
Ich weiß, dass das viel verlangt ist und vielleicht ist diese Zeit des Wartens gerade die härteste Prüfung, die Du in deinem Leben je durchmachen musst. Aber glaub mir: Wenn sie vorbei ist, dann bist Du so stark, dass Du alles schaffen kannst. Dann musst Du vor nichts mehr Angst haben.
Also: hör bloß nicht auf zu kämpfen – Du schaffst das!
Ronja
P.S.: Ich hab dir geschrieben, dass jeder seine eigenen Tricks finden muss. Zur Sicherheit hab ich deine Angst trotzdem in einen Luftballon mit Helium gepackt und Richtung Weltall geschickt. Wer weiß, vielleicht klappt’s ja.